Christlich-esoterisches oder christlich-fundamentalistisches Denken und Glauben |
Christliche Esoterik
“Zum Wunder der Identität Israels gehört seine Kraft der Unterscheidung. Die Ekklesia braucht dieses ständige Unterscheiden so dringend wie die Synagoge. Sie darf nicht in jenen Krankheitszustand des Geistes verfallen, in dem alles gleich, alles gleich gültig, alles beliebig ist. Dort, wo nichts mehr unterschieden wird, kehren die alten Götter zurück.” Wir leben in einer postchristlichen Zeit. Bisherige christliche Selbstverständlichkeiten haben ihre Plausibilität verloren. Manche Kenntnis über den christlichen Glauben, manche früher vielleicht selbstverständliche Erfahrung mit dem christlichen Glauben ist weggebrochen. Christentum ist erklärungsbedürftig geworden. ChristInnen müssen sich Rechenschaft darüber ablegen, was die unverzichtbaren Inhalte ihres Glaubens sind und – wenn notwendig – wo die Grenzen zu anderen Glaubenssystemen verlaufen. Die Abgrenzung ist nicht leicht. Unschärfen in Randzonen sind zu erwarten, Entwicklungen auf dem “Markt der Religionen” zu beachten. Vielleicht müssen wir auch eine Zeitlang damit leben, dass die Abgrenzung dort am deutlichsten vorgenommen wird, wo die größte Nähe ist: zu Fundamentalismus einerseits, esoterischem Christentum andererseits. Erscheinungsformen esoterischen Denkens in christlichen GemeindenHier versuche ich zunächst, meine Erkenntnisse hinsichtlich esoterischen Denkens darzulegen. Dabei stütze ich mich auf eigene Erfahrungen und auf die Bewertungen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Eindeutig und leicht zu beurteilen ist das marktgängige esoterische Angebot, das gelegentlich sehr platt daherkommt – und dennoch für Hilfe suchende Menschen attraktiv ist. Als recht unproblematisch erweist sich auch eine sog. Gebrauchsesoterik von ChristInnen, die unbefangen und oft auch in Unkenntnis der weltanschaulichen Hintergründe mit dem breiten Angebot der Esoterik zur Bewältigung von Problemen umgehen kann: mit Reiki, Pendeln, der Kinesiologie, einer Bachblüten-Medikation; Qi-Gong, Klangmassage und Aqua Wellness ……… Begriffe und InhalteDies gilt z.B. für den Begriff “Spiritualität”: Für Christen bezeichnet dieser Begriff die Verbindung zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mensch (spiritus=Geist, Geist Gottes, Hl. Geist). In der breiten und durchaus uneinheitlichen Esoterik-Szene wird der Begriff inflationär angewandt; er verweist auf ein “Mehr”, ohne dieses Mehr jedoch mit einem umschriebenen Inhalt zu verknüpfen. Auch das Wort Ökumene erhält einen veränderten Inhalt. Bisher war es möglich, von der Ökumene der christlichen Kirchen zu sprechen. Im Denkhorizont der Esoterik umfasst Ökumene alle Weltreligionen, archaische und indigene, magische und mythische Religionen. Esoterisches Christentum erkennt unterschiedlos allen Religionen Offenbarungscharakter zu. Im Gegensatz zur Religionswissenschaft geht esoterisches Christentum davon aus, dass Mystik am Anfang jeder Religion stehe und ihren wesentlichen Kern bilde. Die Wege aller Religionen werden als Wege zu einer mystisch erfahrbaren Mitte betrachtet. Alle Religionen haben die Aufgabe, diesen Weg zur mystisch erfahrbaren Mitte zu ebnen. Religionen sind zu überwindende Stufen auf dem Weg zur Mitte. Letztlich machen sie sich überflüssig. Religiöse Institutionen und Organisationen haben nur insofern eine Berechtigung, als sie diesem Weg zur Mitte dienen. ChristInnen können nach Ansicht esoterischer ChristInnen durchaus in ihrem Christentum bleiben, Christentum ist dann “Weg ihrer Wahl” – jedoch kann Christus in diesem Denkhorizont keine Priorität beanspruchen. Aus dem Spektrum des Begriffs Spiritualität, der neben individuell-meditativ-mystischen Erfahrungen wesentlich auch rationale, zwischenmenschliche, moralische, soziale, politische Erfahrungen umfasst, wird alleine die individuelle, meditativ-mystische Bedeutung herausgenommen. Nur diese mystische Erfahrung wird als Plausibilitätskriterium anerkannt. Dabei wird das höhere Wissen der Esoterik individuell und eklektisch (aus unterschiedlichen Quellen schöpfend) benutzt. Die Auswahl richtet sich nach persönlichen Vorlieben. Da diese Wahl individuell ist, kann sie naturgemäß keiner Kritik unterworfen werden. Im Blick auf Therapien mit religiösem Anspruch, wie die Transpersonale Psychologie sie darstellt, gibt es keine Verfahrensregeln, die dem Schutz der KlientInnen dienen könnte. Die Ausbildung unterliegt keinen anerkannten Regelungen: “Wer an diesen Institutionen allerdings die Qualitätsstandards setzt oder in der Lage ist, Qualitätssicherung zu betreiben, bleibt fraglich” , urteilt die EZW. Seine Identität gewinnt dieses esoterische Christentum als angeblich funktionierende Technik zur Erreichung des persönlichen Glücks ebenso wie des Weltfriedens. Die Zentralstelle für Weltanschauungsfragen spricht gar von einem “technikförmigen Protest gegen einen von Technik und Ökonomie beherrschten Alltag”. Das wissenschaftliche Weltbild wird abgewertet, die religiöse Erfahrung individualisiert, das globalisierte religöse Angebot aufgegriffen. Die Grenzen zwischen Esoterik und Religion, Glaube und Aberglaube, Methode und Magie werden unklar und verwischen sich. Bisher wurden religiöse Erfahrungen als eine durch die Tradition einer Religion vermittelte (und so auch den Menschen schützende) Erfahrung interpretiert. Im esoterischen Christentum hingegen wird die persönliche spirituelle, manchmal auch magische Erfahrung als unmittelbare Erfahrung mit einer absoluten kosmischen Realität gedeutet. Da esoterische ChristInnen das esoterische Christentum als einzig zukunftsträchtige Form des Christentums ansehen, lehnen sie ihre Beschreibung als “esoterisch-christlich” in der Regel ab – sie verstehen sich als christlich und benennen sich auch so. In der Priorität, die der individuellen Erfahrung zuerkannt wird, liegt zugleich ein – sicher zu prüfender und sicher nicht vom Tisch zu wischender – Protest gegen Traditionalismus, gegen versteckten Fundamentalismus, gegen die Verkopfung in den Kirchen und die manchmal starre Bindung an ein Dogma, das der persönlichen und persönlich verantworteten Erfahrung nur wenig Raum zu lassen scheint. Ein BeispielAm Beispiel des Ökumenischen Zentrums Neumühle, das sich als “erstes christliches Meditationszentrum auf deutschem Boden” vorstellt, untersucht die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen den Hintergrund dieses Zentrums. Sie stuft es als “esoterisch” ein. Weltanschauliche HintergründeMit dieser Deutung der Religionen einher gehen folgende Ansichten, die in der Praxis natürlich nicht in der hier genannten theoretischen “Reinheit” vorliegen:
Vertreter esoterischen ChristentumsDie Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen nennt den Namen des angesehenen Religionswissenschaftlers Michael von Brück, München, der diese Form des Christentums vertrete und nach eigener Aussage seit Jahren in Neumühle ein- und ausgeht. Michael von Brück war im Zusammenhang seiner undistanzierten Mitarbeit in der Mun-Bewegung in das Kreuzfeuer der Kritik von Elterninitiativen in München geraten. Er hatte 1988 den New-Age-Kongress “Geist und Natur” in Hannover vorbereitet. In einem ORF-Interview konnte er am 5.4.1999 formulieren: “Tantras beschreiben Rituale in den je nach Alter der tantrischen Gefährtin unterschiedliche Wirklichkeiten und Aspekte menschlicher Energien zum Tragen kommen, und dargestellt werden und das sind in der Tat 12-jährige Partnerinnen, 16-jährige, 20-jährige bis zu 70-jährigen. Diese verschiedenen Lebensalter repräsentieren verschiedene Energien und so weiter. Aber man muss natürlich bedenken, dass in asiatischen Kulturen in vielen nicht europäischen Kulturen, Indien., China und natürlich auch Tibet; 12-jährige Mädchen hier zumindest in der Vergangenheit erwachsen waren oder auch verheiratet wurden. Also von Kindesmissbrauch kann hier von keine Rede sein. Das ist eine Übertragung heutiger europäischer Zivilisationsvorstellungen in einer anderen Welt und das ist völlig unzulässig.” Ebenso nennt die Zentralstelle für Weltanschauungsfragen den Namen von Willigis Jäger, der diese Form esoterischen Christentums vertrete und 2000 bei den PSI-Tagen in Basel auftrat. Die Schwierigkeiten des Gespräches zwischen ChristInnen und esoterischen ChristInnenliegen nach Ansicht der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen darin, dass esoterische ChristInnen das rationale Unterscheiden als intolerant und unreif, gar als Gewaltakt erleben. Sie haben sich ja gerade aufgemacht, um gegen die Überwertigkeit rationalen Denkens in unserer westlichen Gesellschaft die Überzeugungskraft der eigenen Erfahrung zu setzen. Sie können “die Relativität menschlicher Erkenntnis, und damit den Entscheidungscharakter rationalen Denkens, nicht nachvollziehen… Die Folge ist, dass ‘esoterische Christen’ den andersdenkenden Dialogpartnern ihr Anderssein oft nicht als stimmige Position zugestehen, sondern sie als spirituelle Unreife, moralisches Defizit usw. diffamieren. Ihre Sichtweise der spirituellen Wirklichkeit hat eine so unmittelbare Evidenz, dass sie nicht mehr als Gedachtes, also als (auch potentiell anders zu denkendes) geistiges Produkt wahrgenommen wird. Darin erweist sich wiederum der gnostische Grundzug der Esoterik, der tendenziell Wissen verabsolutiert und Gott denkbar, also dem hoch genug gestiegenen menschlichen Geist verfügbar, macht.” KonsequenzenMir scheint, dass esoterisches Christentum für ChristInnen – neben dem richtigen Hinweis auf Erfahrungsdefizite in der Praxis christlichen Lebens – Inkompatibilitäen enthält. Einige seien hier im Blick auf mich als Gewaltüberlebende genannt:
Wenn Gott eine/r ist, die/der menschliches Begreifen übersteigt, ist es dann nicht eine verzweifelte Anmaßung des Menschen gegenüber Gott, sich Ihrer/Seiner “bemächtigen” zu wollen durch menschliche Erkenntnis? Keine religiöse Erfahrung, keine noch so hoch entwickelte Spiritualität, nicht einmal christliche Mystik, kann doch in der Lage sein oder dies auch nur wollen: Gottes hab-haft zu werden. Ein Gott, deren und dessen sich der Mensch bemächtigen kann, ist kein Gott mehr, denn sie befindet sich in der Hand des Menschen. Dieser Gott ist auf Menschenmaß zurechtgestutzt, der Beliebigkeit des Menschen ausgeliefert. (Und was die Beliebigkeit von Menschen anrichten kann, können wir sehr genau wissen und beschreiben, nicht nur an der eigenen Lebensgeschichte.) Dieser handhabbare Gott verliert schließlich auch seine/ihre Schutz gewährende “Größe”. Im Anfang mag es so scheinen, dass ein Gott, dessen/deren ich mich bemächtigen kann, leicht konsumierbar, gut handhabbar, meinen Bedürfnissen anpassbar ist. Nur eines ist Er/Sie dann nicht mehr: Gott.
Wenn ich die Erfahrungen Israels mit seinem Gott und die Erfahrungen der ChristInnen mit dem jüdisch-christlichen Gott als Erfahrungen mit einem personalen Gegenüber, dem sich der Mensch als Ebenbild Gottes aussetzt, verstehe, dann kann dieses personale Gegenüber gerade in seiner Personalität eine heilsame Begegnung sein. Diese Begegnung schafft ein Gegengewicht zu den unheilen Erfahrungen mit Menschen. Die Wunden der Vergangenheit, von Menschen zugefügt, können heilen, gerade WEIL Gott personal vorgestellt werden kann.
Der Rückgriff auf meine eigene Gottverbundenheit ist immer störanfällig und wird es wohl auch bleiben. Zerschlagenes Urvertrauen kann nicht rückgängig gemacht werden. Linderung und täglich neues Aufbauen sind möglich. Beides gelingt jedoch nicht zuverlässig. Für mich sind daher die geschichtlichen Zeugnisse von Menschen, die ihre Erfahrungen mit ihrem Gott erzählen, kostbar. In ihnen finde ich trotz aller patriarchalen Verzerrungen Halt, weil ich erkennen kann, dass die Menschen der Bibel immer neu erfuhren, dass Gott sich in ihrer menschlichen Geschichte an sie, die Menschen, gebunden hat. Auf diese Tradition kann ich zurückgreifen, wenn es in mir keinen Halt mehr gibt. Diese Tradition erlaubt mir zu hoffen, dass Gott seine Selbstbindung an Mensch und Welt bis heute nicht zurückgenommen hat und dass sie auch mir gilt.
Wenn im Christentum Gott den Menschen vor dessen Grandiositätswünschen und ihn überfordernden Ansprüchen schützt – hier tauchen Grandiosität und Überforderung erneut auf. Der Mensch muss sich grenzen- und gnadenlos anstrengen, um die Einheit mit Gott zu erreichen. Wenn die eine Technik sie nicht ermöglichte, muss die nächste und die dritte und vierte Technik ausprobiert werden. Im Christentum darf eine Christin sein, was sie ist: fehlbar. Die Christin muss weder Gott noch sich selbst zur Gänze verstehen wollen. Sie darf die Bruchstückhaftigkeit, die Vorläufigkeit, die Fehlerhaftigkeit ihres Lebens und ihrer Gotteserkenntnis Gott zur Vollendung überlassen. Wenn ich hier eine Abgrenzung zu esoterischem Christentum und seinen bekanntesten Vertretern versuche, dann auch deswegen, weil ich mich weigere zu glauben, dass der Gott, den/die ich anbete, die von Menschen erfahrene Gewalt als “zum göttlichen Vollzug des Lebens gehörig” betrachten könnte. Es wäre dies nur eine weitere Variante der bedrückenden Erfahrung, dass noch immer Gewalt als göttlich legitimiert betrachtet würde. Für mich liegt die Menschen befreiende Perspektive nicht in der göttlichen Legitimation von Gewalt, sondern umgekehrt im schärfsten Widerspruch Gottes dazu. Und diesen Mensch gewordenen Widerspruch Gottes gegen Unterdrückung und Gewalt finde ich in Jesus von Nazareth. 30.10.2003
LiteraturPanorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg v. Reinhard Hempelmann, Ulrich Dehn, Andreas Fincke, Michael Nüchtern, Matthias Pöhlmann, Hans-Jügen Ruppert, Michael Utsch im Auftrag der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Berlin, Güterloh 2001 Jesus Christ – The Bearer of the Water of Life A Christian reflection on the “NewAge” Jesus Christus, der Spender lebendigen Wassers (dt.)
Christlich-fundamentalistisches Denken und Glauben
In dem Buch “Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts”, herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Gütersloh 2001, finden Sie S. 409 – 498 eine respektvolle und dennoch klare Auseinandersetzungen mit fundamentalistischen Strömungen innerhalb der Großkirchen, an ihrem Rand oder auch jenseits der Großkirchen. Ich müsste diese 89 Seiten abschreiben, um einen Eindruck von der Problematik der einzelnen Gruppierungen zu vermitteln und um der derzeitigen – sich ausbreitenden – Vielfalt dieser Strömungen, gerecht zu werden. Für Gewaltüberlebende ist es wichtig, dass sie mit wachem Blick erkennen,
Es ist mir nicht möglich, diese Denkweisen einer bestimmten kirchlichen Gruppierung zuzuordnen. Ich finde sie häufiger in benennbaren Gruppierungen – aber eben nicht immer. Umgekehrt sind auch beide Großkirchen nicht vor solch fundamentalistischem Denken gefeit. So weist der Freiburger Theologe Magnus Striet am 30.7.2019 darauf hin, dass die Rede vom "wahren Glauben" als Unterscheidungsmerkmal zwischen Gläubigen missbraucht werden kann. Er fordert, dass die Kirche der Versuchung des Rechtspopulismus entgegentreten müsse. Dort werde das religiöse Erleben vor jeder wissenschaftlichen Erkenntnis oder theologischen Einsicht betrachtet. Der Rechtspopulismus sei zugleich unfähig zur Selbstkritik, antipluralistisch und schließlich antiintellektuell. Striet kritisierte den Versuch, "eine durchsichtige Religionswelt gegen eine immer komplexere und undurchschaubarere Welt außen zu errichten". |